„Wohlbefinden und Bewegung sind miteinander gekoppelt“
17. Dezember 2023Sport wirkt leistungssteigernd und antidepressiv und ist mit durchweg positiven Eigenschaften verbunden – es ist immer nur die Frage des Maßes. Das machte Prof. Dr. Michael Huss, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Mainzer Universitätsmedizin, am Samstag beim landesweiten Fachtag des Projekts „Bewegung Hoch Vier” unter dem Motto „Mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen durch Sport” im Rheintal-Congress-Centrum in Bingen deutlich.
„Wir halten den Sport für extrem wichtig“, betonte der Jugendpsychologe vor 300 Übungsleiter*innen, Trainer*innen, Freiwilligendienstleistenden sowie sonstigen Vereinsmitarbeiter*innen, die dem Ruf der Sportjugend des LSB sowie der regionalen Sportjugenden Rheinland, Pfalz und Rheinhessen ans Rhein-Nahe-Eck gefolgt waren. „Wohlbefinden und Bewegung sind evolutionär miteinander gekoppelt. Es gibt fast keine psychische Hilfe, die nicht irgendwo mit Sport und Bewegung assoziiert ist.“ Laut Huss gibt es einen psychologischen Zusammenhang, dass durch den langen Corona-Lockdown die Kinder nicht mehr in die Schule gegangen sind und der Tatsache, dass sie dadurch immer schlechter geworden sind, aber auch einen biologischen. Es sei „mitnichten sicher, dass immer nur ein psychologisches Modell greift“. Die einzelnen psychiatrischen Erkrankungen hätten unterschiedlich hohe genetische Anteile. Der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie erläuterte, es gebe „Menschen, die den Sport nutzen, um mit ADHS besser klarzukommen – denen muss man nach ihrer Karriere helfen.“ Als Beispiel nannte er frühere Spitzensportler*innen wie Skispringer Matti Nykänen, Schwimm-Olympiasieger Michael Phelps oder die frühere US-Nationalkeeperin Hope Solo – die allesamt ADHS haben. „Hope Solo hatte das – wenn sie Sport gemacht hat – immer im Griff. Als sie damit aufgehört hat, hatte sie massive psychische Probleme.“ Fazit von Huss: „Der Sport wirkt, solange man ihn macht, protektiv gegen psychische Erkrankungen. Deswegen ist es ganz wichtig, dass wir ihn auch therapeutisch einsetzen.“ Und zwar im Leistungssport wie im Breitensport.
Milde Ausprägungen von Unruhe, Hyperaktivität und Co. ließen sich durch regelmäßigen Ausdauersport behandeln. Die sogenannten exekutiven Funktionen verbesserten sich deutlich durch Bewegung. Und Bewegung in der Gruppe sei hier besonders hilfreich, „Bewegung im Grünen zusätzlich hilfreich“. Mit Blick auf Social Media konstatierte der Experte: „Patienten, die eine Depression haben, nutzen mehr Soziale Medien. Das ist nicht dramatisch unerwartet. Aber es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen Social Media-Nutzung und Depressionen.“ Huss stellte klar: „Mediennutzung ist nicht generell schlecht, sondern nur deshalb, weil man sich weniger bewegt.“ Für sich genommen sei das jedoch „gar nicht ein so pathogener Faktor, wie wir vermutet hatten“. Und Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen gehe es „saugut, wenn sie digital vernetzt sind“, urteilte der ehemalige Mitarbeiter der Berliner Charité.
Mit der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen vor dem Hintergrund der COPSY-Studie befasste sich Dr. Franziska Reiß vom UKE Hamburg in ihrem Online-Vortrag. „Mit Beginn der Pandemie haben sich die psychischen Auffälligkeiten verdoppelt und sind dann erst langsam wieder zurückgegangen“, betonte die Soziologin. „Die präpandemischen Werte haben wir noch nicht wieder erreicht.“ Das psychische Wohlbefinden hänge eng mit dem Gesundheitsverhalten zusammen. Die soziale Herkunft spiele immer noch eine große Rolle, wenn es um Gesundheit und gesellschaftliche Chancen von Kindern und Jugendlichen gehe. Kinder aus Elternhäusern mit hohem gesellschaftlichen Status seien deutlich seltener von psychischen Auffälligkeiten oder depressiven Symptomen betroffen. Dieses Muster habe sich über die Pandemie hinaus weiter gehalten. Gemeinsame Zeit mit der Familie, Unterstützung aus ihrem sozialen Umfeld sowie Rituale und Routinen, die Struktur und Halt geben, seien ganz wichtig für eine gesunde Entwicklung von Kindern.
Fabian Maisch vom betrieblichen Gesundheitsmanagement „MOOVE“ referierte darüber, wie Sportvereine von den Erkenntnissen aus dem Betrieblichen Gesundheitsmanagement profitieren können. „Eine ganz wichtige Zielgruppe bei der mentalen Gesundheit sind ganz klar die Trainerinnen und Trainer“, sagte der Handballer. „Hier muss man vielleicht aber auch erst einmal Wissen vermitteln. Wir müssen Trainer befähigen, psychische Belastungen zu erkennen, aber auch im Sinne einer Selbstfürsorge damit umzugehen.“ Was es mit der Erfolgsformel 4B („Binden, Bewegen, Bilden, Begeistern“) im Kinder- und Jugendsport auf sich hat, brachte Dominic Ullrich, DLV-Vizepräsident Jugend und Vorstandsmitglied der Deutschen Schulsportstiftung, dem Plenum näher. (Leichtathletik-)Coaches seien „viel mehr als die, die nur einen Weitsprung vermitteln – wir sind alle Pädagogen und Bildungspartner“.
Vor der abschließenden Zertifikatsverleihung „Gesundheitscoach mentale Gesundheit im Kinder- und Jugendsport“ an 25 engagierte Männer und Frauen stand auch noch eine Podiumsdiskussion zum Thema des Tages, die von Florian Düx, Vorsitzender der Sportjugend Rheinhessen, moderiert wurde. „Mein Tipp Nummer eins wäre, das Thema zu normalisieren“, sagte Martyna Trajdos, Judo-Europameisterin und Mentalcoach. „So, wie wir mit unserer physischen Gesundheit umgehen, können wir auch mit unserer psychischen Gesundheit umgehen.“ Ihr zweiter Tipp: empathisches und offenes Zuhören. Und drittens: Immer auch die Sportler*innen, die gerade verletzt sind, mit ins Training zu integrieren. „Dass das Thema mit einem Tabu behaftet ist, sollte man ändern“, forderte Mehran Feraji, Vorsitzender der Sportjugend Rheinland. „Das geht mit Aufklärungsarbeit – indem man lernt, offen über seine Gefühle und Bedürfnisse zu sprechen.“ Laut Leandra Götz, ehemalige FWD-Sprecherin, ist es notwendig, „dass immer mehr Übungsleiter und Trainer darauf vorbereitet werden, bei mentalen Problemen helfen zu können“. Samuel Soffel, stellvertretender Landesjugendwart der Pfälzer Turnerjugend und im Hauptberuf Förderschullehrer in Ludwigshafen berichtete, von 200 seiner Schüler*innen seien fünf im Sportverein. „Gerade diese Kinder – davon ganz viele mit Migrationshintergrund – bräuchten ganz dringend Vereinssport. Ich würde mir wünschen, dass man es schafft, auch solche Kinder mehr zu inkludieren.“
Im Anschluss an einen inspirierenden Fachtag zogen Dr. Martin Hämmerle und Jan Krämer, Vorsitzender der Sportjugend Pfalz, ein zufriedenes Resümee. „Wir sind von der Nachfrage begeistert. Es waren echt viele Leute da –und das zeigt, dass dieses Thema ein wichtiges ist.“ Die Ehrenamtlichen im Land zu stärken, zu unterstützen und weiterzubilden habe man sich auch in Zukunft auf die Fahnen geschrieben.